1. Kapitel - click hier
Jetzt lag der Stift vor ihr und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie, dass sie wieder greifen konnte. Nicht um sofort zu schreiben, sondern um die Bewegung zuzulassen, die ihr murmelt: “Bewusstsein existiert noch.” Die Worte, die unsere Gedanken zum Ausdruck bringen, sind wie die Zellen aus den wir gebaut wurden, sie durchqueren die Schmerz, Stille und Zerstörungsgefühl. Wer wieder greift, beginnt nicht bei Null. Sie begann also wieder. Bei sich selbst, der der Erinnerung, dass Sprache, Ausdruck, Aufmerksamkeit und Danke Mittel der Selbstwiederfindung sind.
Sie setzte sich mitten auf den fast gefrorenen Weg, der sich unter einer dünnen Schneeschicht verbarg. Und brachte zum lauter Ausdruck: “Danke!”. Es war an niemanden Bestimmten gerichtet, es war kein Gebet, kein Versuch, etwas zu beschönigen. Es war ein schlichtes, erfreuliches Gefühl, ein ehrliches Wort - ausgesprochen inmitten einer öde Kälte, dort, wo nichts mehr erklärt, nichts mehr gerettet werden musste. Es war vielleicht der erste wirkliche Akt des Annehmens nach Jahren des Widerstands. Ein leises Eingeständnis, dass selbst das Zerstörte einen Sinn getragen hatte, dass die Stille nicht leer, sondern notwendig war. Der gefrorene Weg wurde zu einer Linie zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen all dem, was sie verloren, un dem, was sie in sich wiederfinden würde.
Die Lektorin aus dem Verlag äußerte ihr, sie habe in ihrem Leben unzählige Manuskripte und Klassiker verschlungen, jedes Buch wie ein kleines Universum betreten. Ihr Schreibstil sei jedoch etwas Neues: rau, intensiv, tiefstürzend, fordernd, manchmal überfordernd für die neuen Gehirne der Gesellschaft, die an schnellere Reize und sofortige Befriedigung gewöhnt sind. Ihr Schreiben verlange Zeit, Konzentration, das Aushalten des Unbequemen, Selbstreflexion. Gerade darin lag seine Kraft: es forderte den Leser, sich einzulassen, aufmerksam zu sein und ….. und …. Bereit sein, innerlich wachsen zu wollen!
Wenn die Menschen heutzutage “das Richtige” lesen würden, könnten sich auch unsere Werte und unser Verhalten gegenüber anderen zum Positiven entwickeln. Wir würden achtsamer mit unseren Worten, Aussagen und Gesten umgehen; unsere Beziehungen würden respektvoller, ehrlicher, transparenter und liebevoller entwickeln. Wir würden begreifen, dass Schweigen anstelle des miteinander Redens jede Art von Beziehung langsam, aber unausweichlich schmerzhaft verschwinden lässt.
Doch was bedeutet überhaupt, das Richtige zu lesen? Vielleicht ist es jene Literatur, die uns nicht nur oberflächlich unterhält, sondern uns beunruhigt – die uns zwingt, zu denken, zu fühlen, zu hinterfragen um zu verstehen. Bücher, die nicht als Flucht dienen, sondern als Spiegel, in dem wir uns selbst und die Welt neu erkennen. Das Richtige zu lesen heißt, sich berühren zu lassen, die eigene Bequemlichkeit zu stören, die gewohnte Distanz zu verlieren.
Denn wer wirklich liest, begegnet sich selbst. Und wer sich selbst in der Tiefe begegnet, kann dem anderen nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen. Lesen wird dann zu einer Form von Verantwortung – gegenüber dem eigenen Denken, gegenüber der Sprache, gegenüber dem Leben.
Menschen, die nicht lesen, leben anders. Illusorisch leichter, einfacher, weil sie im Grunde sich verstecken. Sie wollen oberflächlich und luftig bleiben. Und das spiegelt sich in ihren Beziehungen oft, wo ihre Anpassungsunfähigkeit und Ignoranz an Terrain gewinnen. Ihr Denken reagiert auf Reize, nicht auf Resonanz. Deswegen fühlen sie sich in wichtigen notwendigen tiefgehenden Konversationen schnell angegriffen und lehnen jede Form vom Objektivität grundsätzlich ab.
Frag einen Menschen, was er grundsätzlich liest - ob überhaupt - und du wirst einen Überblick darüber gewinnen, mit wem du zu tun hast. Lass dich nicht von den Buchrücken in seiner Stube täuschen; sie mögen dort stehen, fein arrangiert, doch ob der Mensch, der dort lebt, sie wirklich gelesen und verstanden hat, ist nicht gewährleistet. Wenn er über die Themen der jeweiligen Büchern nicht reden will, heißt es, dass er von einer möglichen Lektüre im realen Leben nichts umzusetzen vermag.
Theoretisch können wir alles. Praktisch jedoch zeigt sich, wer wirklich denkt, fühlt, versteht, einsetzt - und wer nur behauptet, es zu tun.
Man könnte nicht allzu falsch liegen, wenn man behaupten würde, dass das Lesen ein Spiegel des Menschen ist. Es zeigt, wie tief jemand bereit ist, sich selbst zu begegnen – ohne Schminke, ohne Abwehr, ohne Flucht in die Ablenkung.
Und wenn wir uns fragen, wie ein Leben ohne Spiegel wäre, so könnten wir beginnen, bei einem Leben ohne sinnvolle Bücher zu suchen. Ohne das stille Gegenüber, das uns infrage stellt, das uns nicht schmeichelt, sondern zurückblickt.
Ein Leben ohne Spiegel wäre ein Leben ohne Selbstbild – aber auch ohne die Möglichkeit, dieses Bild zu hinterfragen. Man könnte weiter existieren, handeln, funktionieren – doch man wüsste nicht mehr, wer man ist, oder wie man geworden ist, was man geworden ist.
Lesen ist der innere Spiegel, Schreiben der Versuch, das Gesehene zu ordnen. Wer weder liest noch schreibt, lebt in der Oberfläche des Augenblicks – reagiert, aber reflektiert nicht. Und so verlieren wir als Gesellschaft allmählich den Zugang zu uns selbst.
Fortsetzung hier klicken

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen