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Sie gleitet hinaus in die winterliche Landschaft. Die herbstliche Öde mit Schneeflächen liegt hinter ihr jetzt, die Bäume entfalten sich in einer atemberaubende Farbenmischung und zeigen die unterschiedliche Lebensphasen ihrer Blättern. Die Umgebung ist still. So wie das Weiße der Schnee ist. Ihre Schritte begleiten ihr Alleinsein-Wollen. Ihre Seele zeigt ihr den Weg, spürt jede Körperbewegung und jeden Atemzug. Die Welt ist leer und sie gehört zu ihr. Sie atmet Kälte, Stille, Präsenz, Freude. Sie jodelt und spricht mit dem Hohen Dock, jenem majestätischem Berg, den sie zweimal überquert hat, auf über 3.500 m Höhe, in ausschließlich kargem, anspruchsvollem Felsengelände.
Nach etwa anderthalb Stunde betritt sie den ansteigenden und kurvenreichen Forstweg, der sich unter Schnee und eisigen Spuren schmiegt. Sonnenstrahlen und Schatten wechseln einander ab - das Lebensprinzip selbst scheint hier gegenwärtig zu sein. Sie freut sich auf die Rast oben an der Hütte und überlegt sogar, eventuell dort zu übernachten. Doch die 135jährige Hütte ist aber verschlossen, wie hier im Winter alles verschlossen wird.
Also kein Schutz, keine Wärme, nur ein Ende eines Weges und vor sich eine harte Realität: die weiße, unregelmäßige und extrem steile Bergkette die sich zum Himmel ragt, Kälte und die Stille.
Da sie auf einer Reise der Selbstreflexion unterwegs ist, erkennt sie sich selbst in der Landschaft ihres Lebens: blockiert, fast zugesperrt, raus in der Kälte gelassen und verlassen. Ihr Dasein der letzten drei Jahren spiegelt sich in diesem Augenblick wider - ein Zustand zwischen Ausharren und Erwachen, zwischen Stillstand und der leisen Hoffnung, dass sich eines Tages wieder die große Tür öffnet. Nein, nicht die Hoffnung, sondern die Überzeugung!
Auf dem selben Weg nach unten, auf die eigenen Spuren im Schnee, erkennt sie die Parallele zum Jahr 2021. Alles, was sie zu finden und zu spüren glaubte – Nähe, Entgegenkommen, Liebe, Wärme und alles, was zu einer menschlich gesunden Beziehung gehört – wurde ihr als möglich gezeigt, alles wurde ihr angeboten, um dann sehr bald wieder entzogen zu werden. Nichts ist schmerzhafter, als die Grundbedürfnisse eines Menschen mit Anziehungsspiele zu stillen, nur um ihn anschließend im Dunkel sitzen zu lassen. Wenn wir mehr über menschlichen Geschichten lesen würden und verstehen wollen würden, was unser Verhalten den anderen zufügt …… wenn wir uns selbst treffen würden, reflektierten würden …..
Alles schien transparent, erreichbar, zum Greifen nah – doch Distanzierung und Schweigen wurden strategisch und manipulativ eingesetzt, und die Türen verschlossen ihr. Das Leben bot Zeichen, Verheißungen, Hoffnung – und doch blieb sie allein zurück, weil der andere sich schlicht abwandte. Sie nahm es zur Kenntnis, ignorierte aber die Wirkungen. Sie ahnte nicht, dass sie bereits vor einer unendlich dicken, hohen, abrupten, eisigen, stummen, gehörlosen, weißen, gefühllosen Wand stand.
In den folgenden drei Jahren versuchte sie sinnlos und erschöpfend, diese Wand zu erklimmen. Doch eine Wand bleibt still. Denn dort ist keine Seele, keine Emotion, kein Entgegenkommen vorhanden. Es ist nur eine dichte Sperre worüber im Grunde nichts sagen kann. Absolute Leere. Im Winter wird er unüberquerbar, kein Weg führt hindurch, kein Abkürzen ist möglich. Man kann nur stehen bleiben, die Grenze sehen, akzeptieren, dass manche Wege nicht gegangen werden können, dass die Natur, das Leben, die Realität ihre Schranken setzen. Und wenn es um menschliche Beziehung geht: für eine Beziehung sind mindestens zwei Menschen notwendig. Um die Beziehung zu zerstören, genügt einen.
Die Stille um sie herum zwingt sie, nach innen zu hören, auf das eigene Denken, die eigene Präsenz. In dieser Einsamkeit wird deutlich, wie sehr die äußere Welt – und das eigene Leben – nur durch innere Aufmerksamkeit wirklich erfahren werden kann.
In solchen Momenten wird auch klar, warum Lesen mehr ist als Unterhaltung. Ja, Menschen, die nicht lesen, leben anders. Und ich meine jetzt nicht die Sonntagszeitung oder die Werbeblätter die unsere Postkasten überfüllen. Das Denken bleibt stehen. Genau wie Menschen, die nicht regelmäßig etwas ganz Neues lernen - ihre Gehirne schrumpfen. Selbst die Anpassung an anderen (Menschen, Situationen, Orte, Essen, Gewohnheiten usw) wird als Angriff und Gefahr wahrgenommen und daher abgelehnt, oft mit Aggressivität. Wer tiefe Literatur liest, Literatur die auch ein bisschen oder mehr überfordert, gewinnt die Erfahrung, Ambivalenz, Widerspruch und Fremdheit in Gedanken zuzulassen - Fähigkeiten, die in einem oberflächlichen Umgang mit Gedanken oft fehlen. Lesen schafft innere Räume, erlaubt Reflexion jenseits der Oberfläche, jenseits der unmittelbaren Eindrücke.

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